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Das
Heimchen am Herde
Drittes
Gezirpe.
Weihnachtserzählung
von Charles Dickens - Seite 11
Übersetzer: Richard Zoozmann
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Kapitelanfang der Weihnachtserzählung ]
Ihr Vater trat auf ihre eine Seite, während Dot auf der andern blieb und
ihre Hand festhielt.
"Ich kenne Euch alle, " sagte Berta; - "ich kenne Euch besser
als Ihr glaubt, aber niemand ist mir so vertraut wie sie, selbst Ihr nicht,
Väterchen! Es ist an mir selbst nichts halb so wirklich und so wahr, als
sie ist. Wenn ich in diesem Augenblick mein Gesicht wieder erlangen würde,
ich wüsste sie aus einer ganzen Menschenmasse wieder herauszufinden, ohne
dass sie auch nur ein Wort spräche! Liebe, gute Schwester!"
"Berta, mein liebes Kind!" hub Kaleb an, "ich habe etwas auf dem
Herzen, das ich dir sagen möchte, solange wir drei noch allein beisammen
sind. Höre mich freundlich an, denn ich habe dir ein schweres
Geständnis zu machen, mein liebes Kind."
"Ein Geständnis, Vater?" fragte Berta.
"Ich bin vom Pfade der Wahrheit abgewichen und habe mich verirrt mein
liebes Kind!" sagte Kaleb mit einer wahren Jammermiene in seinem
schüchternen, scheuen Angesicht; - "ich bin vom Pfad der Wahrheit
abgewichen, aus lauter Liebe zu dir, allein es hat sich erwiesen, dass ich
dadurch grausam gegen dich gewesen bin."
"Grausam?" wiederholte sie und wandte ihr Gesicht zu ihm hin, voll
der lebhaftesten Überraschung und Verwunderung. "Er klagt sich selber
zu hart an, Berta," sagte Dot, - "du wirst ihm das auch sogleich
sagen; du wirst die erste sein, die ihm das gerne zugesteht."
"Er sollte grausam gegen mich gewesen sein?" rief Berta mit
ungläubigem Lächeln.
"Glaube es nur, mein liebes Kind!" sagte Kaleb, - "ich bin es
wirklich gewesen, obwohl ich es niemals geglaubt hatte bis zum gestrigen Abend.
- Höre mich an, meine liebe, blinde Tochter, und vergib mir! Die Welt,
worin du lebst, mein liebes Herz, ist in Wirklichkeit nicht so, wie ich sie dir
geschildert habe. Die Augen, auf die du dich verlassen hast, sind falsch
für dich gewesen."
Sie hatte ihm bisher noch immer ihr höchst verwundertes Angesicht
zugedreht; allein nun prallte sie zurück und hielt sich fester an ihrer
Freundin.
"Dein Lebensweg war rau, mein armes Kind!" sagte Kaleb, "und ich
hoffte ihn dir erträglicher zu machen und zu ebnen; daher habe ich dir
Gegenstände verändert, das Wesen der Personen anders geschildert, die
nie vorhanden gewesen sind, nur um dich glücklicher zu machen. Ich habe
mancherlei vor dir verhehlt, habe dich manchmal absichtlich getäuscht und
dich - verzeihe mir's Gott! - mit einer erdichteten Welt umgeben."
"Aber lebendige Menschen sind keine Erdichtungen!" rief sie schnell,
erbleicht plötzlich und zog sich noch weiter von ihm zurück, -
"sie kann niemand verändern."
"Und doch habe ich es getan, Berta!" wandte Kaleb ein; -
"besonders eine gewisse Person, die du kennst, mein Liebchen . . "
"O, Vater! warum sagst du mir, ich kenne sie!" gab sie im Tone
bittern Tadel zur Antwort; - "welche Gegenstände und Personen kann
denn ich kennen, ich, die ich gar keinen Führer habe - ich, die ich so
elend und blind bin?"
In ihrem tiefen Seelenschmerze streckte sie die Hände aus, als wollte sie
sich ihren Weg durch Tasten suchen; dann barg sie das Gesicht mit
verzweiflungsvoller Traurigkeit in die Hände. "Die Hochzeit, die
heute gefeiert wird," fuhr Kaleb fort, - "gilt einem finstern,
hartherzigen, filzigen, höhnischen Manne, der seit Jahren schon für
dich und mich ein harter Brotherr war, mein Kind! Hässlich ist sein
Aussehen, wie sein Wesen; fühllos und kalt ist er von innen und
außen, und dem Bilde ganz unähnlich, das ich dir von ihm entworfen
habe, - ganz unähnlich in jedem Stücke."
"O Gott!" rief das blinde Mädchen, dessen tiefer Schmerz fast
alles Maß überstieg, - "o warum hast du mein Herz mit so
schönen Bildern und Begriffen angefüllt und kamst dann wie der Tod
hinterdrein, um mir alles zu entreißen, was mir lieb und wert war? O
großer Gott! warum bin ich denn blind! Warum so allein und hilflos!"
Ihr bekümmerter Vater senkte wehmütig den Kopf und hatte für sie
keine Antwort, als seinen Kummer und seine Reue. Sie hatte sich erst ein kurze
Weile diesem tiefen Seelenschmerzen
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