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Kapitelanfang der Weihnachtserzählung ]
hingegeben, als auf einmal das Heimchen auf dem Herde, für jedes andre Ohr
als das ihrige unhörbar, zu zirpen anhub, aber nicht lustig und heiter,
sondern leise, schwach, in einer schwermütigen Weise.
Es klang so wehmütig und klagend, dass es ihr Tränen zu entlocken
begann, und als die Erscheinung, die während der ganzen Nacht bei dem
Kärrner gewesen war, hinter sie trat und auf ihren Vater deutete,
strömten ihre Zähren wie Regenstropfen. Sie hörte bald des
Heimchens Stimme noch deutlicher, und sah trotz ihrer Blindheit, wie seine
elfenhafte Gestalt ihren Vater umschwebte.
"Marie!" hub endlich die Blinde an und wandte sich an Dot, -
"sag' mir doch, wie meine Heimat aussieht! Schildere sie mir, wie sie
wirklich ist!"
"Es ist ein armseliges Obdach, - wirklich sehr ärmlich und kahl,
Berta!" sagte Dot wehmütig; - "das Haus hält kaum noch
einen Winter das Ungemach des Wetters von Euch ab. - Es ist so wenig gegen das
Unwetter geschützt, liebe Berta!" setzte Dot leise und beklommen,
aber mit heller Stimme hinzu, - "als dein armer Vater in seinem
Überrock von Sackleinwand!" Jetzt stand das blinde Mädchen voll
der tiefsten Rührung auf und zog das Frauchen des Kärrners an der
Hand auf die Seite. "Und die Geschenke, die ich so sorgfältig
aufbewahrte, die fast jedem meiner Wünsche auf dem Fuße folgten, die
mich immer so hoch erfreuten, . . . . " fragte sie hastig und mit
zitternder Stimme; - "von wem kamen sie? Hast du mir sie geschickt?"
Dot verneinte es.
"Wer denn sonst?" fragte Berta.
Dot sah, dass sie es bereits erraten hatte und schwieg. Die Blinde bedeckte
abermals das Gesicht mit den Händen, aber diesmal auf eine ganz andere
Weise.
"Nur noch eine Frage, liebe Marie!" sagte sie zu Dot; - "nur
noch einen Augenblick schenke mir geduldiges Gehör! Komm, tritt wieder mit
mir beiseite! Sprich leise mit mir. Ich weiß, du bist wahr, du wirst mich
jetzt nicht täuschen wollen, nicht wahr?" "O, gewiss nicht,
Berta!"
"Ja, ich bin überzeugt, du könntest es nicht über dich
gewinnen, Marie! Du hast viel zuviel Mitleid mit mir! Blicke jetzt über
das Stübchen hinweg, in dessen Ecke wir nun stehen; schaue nach meinem
Vater, der mir so gut ist und mich leidenschaftlich liebt! - und sage mir, was
du an ihm siehst!"
"Ich sehe," sagte Dot, die sie im Augenblick begriff, - "ich
sehe einen alten Mann, der in einem Stuhle sitzt, sich voll Betrübnis
zurücklehnt und den sorgenvollen Kopf in die Hand stützt - gerade als
ob ihn sein Kind trösten sollte, Berta!"
"Ja, ja, das wird es auch!" sagte Berta schluchzend; - "aber
weiter!
"Er ist ein alter Mann, von Kummer, Sorgen und Arbeit fast aufgerieben,
gealtert von der Zeit," fuhr Dot fort; - "es ist ein schwacher,
entmutigter, betrübter Greis mit grauen Haaren. So sitzt er vor mir, -
mutlos, gebeugt mit gebrochener Tatkraft. Aber ich habe ihn viel hundertmal
zuvor gesehen, wie er aus allen Kräften und auf jede Weise auf ein
großes, hehres Ziel hinarbeitete, und ich ehre und segne sein graues
Haupt!"
Das blinde Mädchen sprang von ihr hinweg, warf sich vor dem alten Manne
auf die Knie nieder und zog sein graues Haupt an seine gepresste Brust.
"Ich habe mein Augenlicht wiedergefunden! ich sehe ihn!" rief Berta;
- "ich bin blind gewesen, aber nun sind meine Augen geöffnet! Zuvor
habe ich ihn gar nicht gekannt. - Ach, wenn ich mir denke, ich wäre
gestorben, ohne jemals meinen guten, treuen Vater, der mich so liebt, in seiner
wahren Gestalt gesehen zu haben!" . . . .
Es gibt gar keine Worte für Kalebs tiefe Rührung. "O," rief
die blinde Tochter und hielt ihn fest umschlungen, - "es gibt keine noch
so schöne und edle Gestalt auf Erden, die ich so innig lieben und so von
Herzensgrund aus verehren würde, als diese. Je grauer und gealterter dies
Haupt, teurer Vater! desto wertvoller und lieber ist es mir. Lasst nun
niemanden mehr sagen, ich sei blind! Es ist keine Furche in seinem Gesicht,
keine Falte auf seiner Stirn, kein Haar auf
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