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Das
Heimchen am Herde
Zweites
Gezirpe.
Weihnachtserzählungen
von Charles Dickens - Seite 3
Übersetzer: Richard Zoozmann
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Kapitelanfang der Weihnachtserzählung ]
Torheit, Laster oder Schwäche zu nennen, die nicht ihr mehr oder minder
ähnliches Abbild in Kaleb Plummers Zimmer gefunden hätte, und zwar
durchaus nicht übertrieben, denn es können sehr kleine Kurbeln und
Federn, ja auch die Menschen, Männer wie Frauen, zu ebenso seltsamen
Streichen veranlassen, als sie nur je ein Spielzeug gemacht hat.
Mitten unter allen diesen Gegenständen saßen, wie gesagt. Kaleb und
seine Tochter bei der Arbeit. Das blinde Mädchen verfertigte die Kleider
für die Puppen, und Kaleb bemalte und lackierte die vierfenstrige Front
eines sehr geschmackvollen Familienpalastes.
Der Kummer der sich in den Linien von Kalebs Angesicht aussprach, und sein
gedankenvolles träumerisches Wesen, das irgend einem Schwarzkünstler
oder abstrusem Gelehrten ganz gut zu Gesicht gestanden hätte, bildete auf
den ersten Blick einen seltsamen Gegensatz mit seiner Beschäftigung und
den Gegenständen, die ihn umgaben. Allein derartige Spielereien, die man
um des täglichen Brotes willen erfindet und betreibt, werden zu sehr
wichtigen und ernsten Dingen; und abgesehen von diesem Erfahrungssatze
möchte ich für meinen Teil durchaus nicht behaupten, Kaleb würde
sich, wenn er Lord-Kammerherr oder Parlamentsmitglied oder Advokat oder sogar
ein großer Spekulant gewesen wäre, mit minder kuriosen und seltsamen
Spielereien abgegeben haben, während ich noch sehr bezweifeln möchte,
dass seine Spielereien alsdann so unschuldiger Natur gewesen wären.
"So bist du also doch, Väterchen, gestern Abend im Regen in deinem
schönen neuen Überrock ausgegangen?" sagte Kalebs Tochter.
"Ja, in meinem schönen neuen Überrocke!" versetzte Kaleb
und blinzelte nach einer Wäscheleine in einer Ecke der Stube, auf der das
oben beschriebene Gewand von Packleinwand sorgfältig zum Trocknen
aufgehängt war.
"Wie froh bin ich, dass du dir's gekauft hast, Väterchen!" sagte
das blinde Mädchen.
"Und dazu noch von solch' einem Schneider!" versetzte Kaleb, -
"von einem ganz fashionabeln Schneider! Er ist wahrlich zu gut für
mich!"
Das blinde Mädchen ließ die Hände mit der Arbeit in den
Schoß sinken und brach in ein fröhliches Gelächter aus.
"Zu gut, Väterchen? Was könnte für dich zu gut sein?"
"Dennoch schäme ich mich beinahe es zu tragen!" sagte Kaleb und
belauerte aufmerksam die Wirkung, die seine Worte auf die Tochter ausübten
und die auf ihrem freundlichen Gesicht zu lesen war. "Auf mein Wort; wenn
ich die Knaben und Leute hinter mir ausrufen höre: "Ei seht doch den
Stutzer an!" so weiß ich gar nicht, wohin ich blicken soll. Und als
der Bettler gestern Abend gar nicht weggehen wollte, und er mir, auf meine
Versicherung, dass ich nur ein ganz gewöhnlicher Mensch sei, zur Antwort
gab: O nein, Euer Ehren! Du lieber Gott, sagen Euer Ehren nur das nicht!"
da war ich ordentlich beschämt. Es war mir gerade zumute, als hätte
ich gar kein Recht, ein solches Kleid zu tragen."
Das glückliche blinde Mädchen! wie heiter sie war im
Übermaß ihrer Freude!
"Ei, liebes Väterchen!" rief sie und schlug die Hände
zusammen, "ich sehe dich so deutlich, als ob ich Augen hätte, die mir
nie fehlen, so oft du bei mir bist. Ein blauer Rock . . . "
"Vom allerschönsten Blau", sagte Kaleb.
"Ja, ja, vom schönsten Blau!" rief das Mädchen aus und
richtete ihr freudestrahlendes Gesicht zu ihm empor, - "das ist die Farbe,
auf die ich mich noch am besten besinnen kann, weil sie der liebe Himmel hat.
Du sagtest mit ja stets, er sei blau! Ein hellblauer Rock also . . . "
"Der aber den Körper lose umspielt!" ergänzte Kaleb.
"Ja, ja, ein recht bequemer Rock!" rief das blinde Mädchen mit
herzlichem Lachen, - "und du darin, bestes Väterchen, mit deinem
heitern Blick, mit deinem fröhlichen, lächelnden Gesicht, mit deinem
kühnen, raschen Schritt und reichen schwarzen Haar! Wie jung und
hübsch musst du doch aussehen!"
"Holla, holla!" rief der Alte, "du machst mich ordentlich
eitel!" "Ich glaube du bist es schon!" rief das blinde
Mädchen und deutete in ihrer Freude auf ihn; - "ich kenne dich,
Väterchen! Hahaha, siehst du nun, dass ich es erraten habe?"
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