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Ein Weihnachtabend

Margret verirrt sich wieder

Weihnachtsgeschichte von Ottilie Wildermuth ( 1817 bis 1877 )

"Darf ich heut Abend nicht ein bisschen hinaus?" hatte Margretchen schüchtern gefragt, als Frau Bendel diesen Morgen fortgegangen war, nicht zu einer großen Wäsche diesmal, es war ja heute Christabend; nur aufwaschen und putzen sollte sie in einem vornehmen Haus.
"Warum nicht?" sagte die alte Frau, die selbst Mitleid hatte mit dem verlassenen Kind. "Ich komme heut Abend wohl nicht so spät heim, will dir auch einen Pfefferkuchen mitbringen; mit Bäumen und Lichtern kann ich mich nicht einlassen; wenn d' nur etwas Gut's zu essen hast, so ist's Christtag genug für dich."
So war denn Margretchen wieder allein gewesen den ganzen langen Tag. Leise, leise fielen Schneeflocken fort und fort; alles war weiß zugedeckt, auch der garstige schmutzige Hof, in den sie hinunter sah, bis es dunkel wurde. Es war dem armen Kinde gar unbeschreiblich betrübt ums Herz. Sie musst soviel an den Weihnachtsabend denken, wo sie hatte Christtagslichter austeilen dürfen und wo der Vater ihr das schöne Bäumchen angezündet. O, wie hatte sie das Heimweh nach den lieben Eltern! Einmal rief sie laut: "Mutter!" aber dann fürchtete sie sich und war wieder ganz still. Es war schon lange dunkel im Stübchen und Frau Bendel kam noch immer nicht; sie konnte nichts dafür, es gab so gar viel zu tun in dem vornehmen Haus. Seit Margret eingeschlossen wurde, hatte sie sich immer gleich ins Bett gelegt, wenn es dunkelte; es war noch ihr altes Bettchen von daheim, mit guten weichen Kissen und warmer Decke, wie es die Mutter gemacht; aber heute, da konnte sie nicht zu Bett: es war Christabend. Nur ein klein wenig hätte sie sehen mögen von all der Herrlichkeit draußen! Sie hatte es ja noch gar nie gesehen, nur davon erzählen hören; aber sie dachte sich's gar zu schön, die hellen Fenster und glänzenden Christbäume.
In der armen Straße, wo die Wäscherin wohnte, war gerade nicht viel von Weihnachtsjubel zu hören und zu sehen; doch dachte Margretchen, wenn sie auch nur ein klein wenig vor die Haustür könnte, so müsste sie doch etwas sehen. Sie ging an die Stubentür sie hatte das lange nicht mehr probiert, sie war ja immer verschlossen; heut aber war sie offen! Hatte das die Wäscherin absichtlich getan, weil's Christabend war? Die Kleine schlüpfte hinaus, ein kalter Wind und Schneeflocken wehten ihr entgegen; gegen Abend wurde ihre Stube auch kalt, aber da draußen war's doch noch kälter. Margretchen fühlte es nicht; es war gar zu schön, auch wieder einmal frei auf der Gasse laufen zu können. Es war noch nicht so dunkel wie in der Stube, Weihnachtslichter sah sie aber nirgends brennen. Sie wollte nicht wieder so weit weglaufen, ja nicht; nur noch ein bisschen weiter in eine größere Straße: da sah sie wirklich auch ein helles Fenster; aber es war hoch oben, sie konnte es kaum sehen.
Die Straße war fast leer, die Kleine fror in ihrem dünnen Kleidchen, sie lief weiter und weiter; sie wusste nicht mehr recht, ob sie heimwärts gehe oder weiter fort, - es fiel ihr eine Geschichte ein, die ihr der Vater einmal erzählt, von einem armen, verlassenen Kind, das allein, ganz allein durch eine fremde Stadt gegangen und das niemand in ein Haus gerufen habe, bis ein Engel gekommen; der habe dem Kind die vielen, vielen funkelnden Sterne gezeigt droben am Himmel, heller und schöner, als der schönste Christbaum; der Engel aber sei das Christkind selbst gewesen und habe das fremde kind mit hinauf getragen in den Himmel.
"O lieber Heiland, hol' mich lieber auch!" weinte Margretchen, aber ganz leise; sie hatte Angst, es könnte sie wieder ein Polizeidiener zurückführen, und jetzt erst fiel ihr ein, dass Frau Bendel ihr gedroht hatte, wenn sie wieder fortlaufe, so bekomme sie Schläge.
Am Himmel war kein Stern zu sehen, nur Schnee rieselte herunter, leise, leise; niemand gab acht auf das arme, verlaufene Kind, niemand hörte sein stilles Weinen, wie es, ängstlich und bang weiter lief, fort und fort, in die kalte Nacht hinaus.
Niemand? - Der Heiland im Himmel, der selbst einst als ein armes Kindlein auf der Erde gewandelt, der sieht herab, auch wenn der ganze Himmel mit grauen Wolken bedeckt ist, und der hat noch keines verlassen und vergessen.
Seite: Seite 1 - Margret verirrt sich wieder

Ein Weihnachtabend:
1. Ein Weihnachtabend
2. Margretchen allein
3. Gabriele
4. Margret verirrt sich wieder
5. Gabrielens Christabend
6. Das Schwesterlein






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Weihnachtsgeschichte: Margret verirrt sich wieder


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