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Rotkehlchen
Weihnachtsgeschichte
von Heinrich Seidel - Seite 3
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Farben ausmalte. Natürlich sollte es ein Genie sein, keines von jenen
Tieren mit mangelhafter Schulbildung, die mit : "Wie heißt du,"
"Papa," und "eins, zwei, drei, hurra!" ihren ganzen
Sprachschatz erschöpft haben. Nun erfuhr Herr Dusedann durch einen
Vogelhändler, dass in der Stadt ein alter pensionierter Beamter lebe, der
einen wunderbaren Papagei "klüger als ein Mensch" besitze, und
nachdem er sich vieles von den Künsten dieses Wundervogels hatte
erzählen lassen, empfand er deutlich, das Leben würde seines
schönsten Reizes beraubt sein, wenn er diesen Vogel nicht sein eigen
nennen dürfe. Da er von dem Händler hörte, dass der Beamte nicht
in den besten Verhältnissen lebe, da er gelähmt sei und von seiner
geringen Pension drei Töchter zu erhalten habe, und infolgedessen wohl
geneigt sein dürfte, gegen ein gute Gebot den Vogel zu verkaufen, so
steckte Herr Dusedann eines Tages sein Portemonnaie voll Goldstücke und
machte sich auf, den Beamten, der Roland hieß, zu besuchen. Dieser wohnte
in einem ärmlichen Hause in der Vorstadt, in einer Gegend, wo die
Straßen schon anfangen, häuserlos zu werden. Als Herr Dusedann an
die Tür klopfte, rief eine etwas schnarrende Stimme: "Herein!"
und er trat in ein ärmliches, aber freundliches Zimmer. Gegenüber der
Tür auf einem alten, vielbenutzten Sofa lag ein Mann von einigen
fünfzig Jahren mit blassen, aber freundlichen Gesichtszügen und vor
ihm auf dem Tische stand ein großer Drahtbauer mit dem erwünschten
Vogel.
"Guten Morgen," sagte der Papagei.
Herr Dusedann erwiderte diese Höflichkeit und stellte sich dann dem Herrn
Roland vor.
"Bitte, nehmen sie Platz," sagte der Papagei. Herr Roland
lächelte: "Der Vogel nimmt mir die Worte aus dem Munde, sagte er
dann. "Womit kann ich dienen?"
Herr Dusedann setzte sich, räusperte sich ein wenig und indem er seine
Augen auf den Papagei richtete der eine dämonische Anziehungskraft auf ihn
ausübte, sagte er: "Ich bin ein großer Vogelliebhaber, Herr
Roland. Ich habe von ihrem außerordentlichen Papagei gehört und bin
gekommen, Sie um die Erlaubnis zu bitten, die Bekanntschaft dieses Vogels zu
machen."
"Siehst du, wie du bist?" sagte der Papagei. Dann ging er
seitwärts auf seiner Sitzstange entlang, verbeugte sich ein paar Mal, sah
ungemein pfiffig aus und sagte: "Oooh!"
"Ein doller Vogel!" rief Herr Dusedann mit dem Ausdruck der innigsten
Bewunderung und zugleich quälte ihn der beängstigende Gedanke, ob er
auch wohl genug Goldstücke in sein Portemonnaie gesteckt habe. "O er
kann noch viel mehr!" sagte Herr Roland und betrachtete seinen Liebling
mit leuchtenden Augen. Der Papagei, wie um dies zu bestätigen, fing an zu
singen: "Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein
Fuß!" Dann krähte er wie ein Hahn, gackerte wie eine Henne und
bellte so ausgezeichnet, dass der talentvollste Hund noch hätte von ihm
lernen können. Mit diesen Leistungen schien er selber zufrieden zu sein,
denn er brach scheinbar vor Entzücken in ein ungeheures Gelächter
aus.
"Kolossal!" rief Herr Dusedann. Da nun ein Augenblick der Stille
eintrat, indem sich der Vogel mit seinem Futternapf beschäftigte,
hörte man eine anmutige Mädchenstimme im Nebenzimmer singen, so wie
man bei der Arbeit vor sich hinsingt. Obgleich Herrn Dusedanns Aufmerksamkeit
durch den Papagei sehr in Anspruch genommen war, bemerkte er dies doch, und
durch eine Ideenverbindung fiel ihm seine Vogelstube ein, wenn das Abendrot
seitwärts hineinschien, in den dämmerigen Ecken die kleinen
Vögel fast alle schon schliefen und nur noch ein Rotkehlchen sein
träumerisch liebliches Abendlied sang. Es horchte eine Weile auf die
anmutige Stimme. "Ganz wie ein Rotkehlchen," dachte er.
Der Papagei war ebenfalls aufmerksam geworden, er sträubte die Kopffedern
und sprach mit sanftem Ausdruck: "Wendula! Wendula Roland!" Dann
wanderte er wieder seitwärts, verbeugte sich ein paar Mal und sagte
wieder: "Oooh!"
"Er meint meine Tochter," sprach der Alte, "er hört sie
singen."
Herr Dusedann war durch und durch begeistert für diesen Vogel. Er fasste
Mut, tastete heimlich nach der wohlgefüllten Rundung seines Portemonnaies
und sagte: "Sie wissen, Herr Roland, ich bin ein Vogelliebhaber. Ich habe
hundertdreizehn Vögel zu Hause. Es ist mein
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