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Der
Stern der Mitte
Weihnachtsmärchen
von Paula Dehmel - Seite 2
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Da erfüllte sich das Wunder, das den Sterne innewohnte: Er fing an sich zu
drehen und dem Knaben sein verborgenes Farbenspiel zu zeigen. Weich und
glühend dehnten sich seine bunten Kreise durch das Gewölbe; und was
sie berührten, wurde von eigenem Leben erfüllt oder kristallen
durchsichtig und offenbarte dem Beschauer sein innerstes Wirken. Da faltete der
einsame Knabe gläubig die Hände und betete: "Gelobt sei
Allah!"
Wie ein Träumender ging er zuerst durch das Gewimmel der anderen Pilger;
sie wichen scheu vor ihm, er aber merkte es nicht.
Bald jedoch erfüllte sich die Verheißung des Weisen an ihm; es war,
als ob ein geheimes Licht in Menschen und Dinge hineinleuchtete. So sah er
vieles, was den andern verborgen war, und was er selbst nie vorher gesehen
hatte. Auch die Bilder in der Halle sah er mit neuen Augen. Auf dem Bilde mit
den geköpften Soldaten erblickte er hinter allen Greueln den
Friedensengel; und auf dem Bilde der Reichen und Armen sah er den Geist der
Gerechtigkeit, der eben das Schwert aus der Scheide zog. Fern aber zwischen
beiden Bildern, tat sich ihm die Wand auf, und er sah ein neues Land in der
Dämmerung liegen, wo stolze, gesunde Menschen ihrem Tagewerk und ihrer
Muße nachgingen.
Und er sah das Lebendige und das Tote, und erkannte, dass ein Weizenkorn mehr
sei als ein Goldkorn.
Und sah den Krieg und die Bitternis, und wusste, dass der Frieden ihr letztes
Kind sein würde.
Und er sah, dass der Tod nur ruhendes Leben und das Endliche nur ein Widerspiel
des Unendlichen ist.
Und er wuchs und tat seinen Mund auf und sagte den Pilgern, was er sah. Und es
ging ein Leuchten von ihm aus, so dass sie ihm glaubten und ihm anhingen.
Er hatte den Stern in der Mitte gläubig angesehen.
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