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Der
Tannenbaum
Weihnachtsmärchen
von Hans Christian Andersen - Seite 5
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Anfag der Weihnachtsgeschichte ]
"Nun beginnt das Leben wieder!" dachte der Baum; er fühlte die
frische Luft, die ersten Sonnenstrahlen, und nun war er draußen im Hofe.
Alles ging geschwind, der Baum vergaß völlig sich selbst zu
betrachten, da war so Vieles ringsumher zu sehen. Der Hof stieß an einen
Garten, und Alles blühte darin; die Rosen hingen frisch und duftend
über das kleine Gitter hinaus, die Lindenbäume blühten, und die
Schwalben zogen umher und sagten: "Quirrevirrevit, mein Mann ist
kommen!" Aber es war nicht der Tannenbaum, den sie meinten.
"Nun werde ich leben!" jubelte dieser und breitete seine Zweige weit
aus; aber ach, die waren alle vertrocknet und gelb; und er lag da zwischen
Unkraut und Nesseln. Der Stern von Goldpapier saß noch oben in der Spitze
und glänzte im hellen Sonnenschein. Im Hofe selbst spielten ein paar der
munteren Kinder, die zur Weihnachtszeit den Baum umtanzt hatten und so froh
über denselben gewesen waren. Eins der kleinsten lief hin und riss den
Goldstern ab.
"Sieh, was da noch an dem hässlichen alten Tannenbaum sitzt!"
sagte es und trat auf die Zweige, so dass sie unter seinen Stiefeln knackten.
Der Baum sah auf all die Blumenpracht und Frische im Garten, er betrachtete
sich selbst und wünschte, dass er in seinem dunkeln Winkel auf dem Boden
geblieben wäre; er gedachte seiner frischen Jugend im Walde, des lustigen
Weihnachtsabends und der kleinen Mäuse, die so munter die Geschichte von
Klumpe - Dumpe angehört hatten.
"Vorbei, vorbei!" sagte der arme Baum. "Hätte ich mich doch
gefreut, als ich es noch konnte! Vorbei, vorbei!"
Der Diener kam und hieb den Baum in kleine Stücke, ein ganzes Bund lag da;
hell flackerte es auf unter dem großen Braukessel. Der Baum seufzte tief
und jeder Seufzer war einem kleinen Schusse gleich; deshalb liefen die Kinder,
die da spielten, herbei und setzten sich vor das Feuer, blickten in dasselbe
hinein und riefen: "Piff, paff!" Aber bei jedem Knalle, der ein
tiefer Seufzer war, dachte der Baum an einen Sommerabend im Walde oder an eine
Winternacht da draußen, wenn die Sterne funkelten; er dachte an den
Weihnachtsabend und an Klumpe - Dumpe, das einzige Märchen, welches er
gehört hatte und zu erzählen wusste - und dann war der Baum
verbrannt.
Die Knaben spielten im Garten, und der kleinste hatte den Goldstern auf der
Brust, den der Baum an seinem glücklichsten Abend getragen; nun war der
vorbei, und mit dem Baum war es auch vorbei und mit der Geschichte auch;
vorbei, vorbei, und so geht es mit allen Geschichten!
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