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Der
Stern der Mitte
Weihnachtsmärchen
von Paula Dehmel ( 1862 bis 1918 )
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Ein
weiser Mann aus dem Morgenland hatte nach Jahren mühseliger Arbeit aus den
Gesteinen der Erde einen Stern zusammengesetzt, in dem die feinsten Kräfte
des Lebens gebannt waren. Was dem Weisen Schönes und Wertvolles begegnet
war, hatte er in Kristallen verwandelt und dem Sterne eingefügt.
Als der Wunderstern vollendet war, ließ er auf der Landstraße, die
von Mekka nach Medina führt, eine prächtige Schau- und Kaufhalle
errichten. Hoch oben in der Kuppel befestigte er seinen Stern. Um ihn her
liefen goldene Lettern, die in einer fremden Sprache folgenden Spruch trugen:
Weib oder Mann,
sieh mich gläubig an,
dann leuchtet tief,
was verborgen schlief,
dann wird zum Kern der Dinge Gestalt,
dann wird zur Ohnmacht fremde Gewalt,
dann wird zum Helden das Kind, der Tor,
dann klimmt ein Mensch zu Gott empor!
Tausende von Wanderer kamen täglich durch die Wunderhalle und bestaunten
die Pracht und die Schätze, die der weise Mann darin aufgehäuft
hatte. Sie betasteten das künstliche Gitterwerk vor den Schaukästen,
die farbenprächtigen Teppiche an den Wänden, die herrlichen
Sammlungen der Waffen und edlen Gesteine in den Nischen - jedoch den Stern hoch
oben in der Deckenwölbung sah niemand gläubig an. Wohl streifte ab
und zu ein halber blick den hellen Fleck, aber man hielt ihn für wertloses
Glas, und niemandes Auge blieb an ihm haften. Immer kehrten die Blicke in die
prächtige Halle unten zurück. Da hingen auch zwei große Bilder
an den Wänden. Vor diesen Bildern stand die Menge immer dichtgedrängt
mit Staunen und Geflüster.
Das eine Bild stellte den Tod dar, wie er an einer langen Kette
vorbeimarschierte und mit der Sense einem Soldaten nach dem andern den Kopf
abschlägt. Die Soldaten aber - und das war grausig anzusehen - standen
alle stramm wie auf dem Kasernenhof, und die ihren Kopf noch hatten, machten
die Augen zu. Vorn, auf dem Feuer einer platzenden Granate, saß grinsend
der Teufel und schwenkte sein rotes Fähnchen.
Das Bild auf der andern Seite war ein Gastmahl in einer offenen Veranda. Eine
Menge schöngeputzter Herren und Damen saßen da zu Tische. Erlesene
Speisen und edle Weine standen vor ihnen. Sie aßen und lachten mit
einander und warfen Knochen und Brotstücke über die Brüstung.
Draußen standen viele arme Leute und fingen die Broken auf; einige mit
Hass in den Augen, andere mit tiefer Verbeugung. Daneben standen etliche, die
sahen traurig oder ingrimmig zu, und einer ballte die Faust nach dem Tisch mit
den Speisen.
Diese beiden Bilder zogen die Menschen immer wieder machtvoll an, aber der
Weise aus dem Morgenland sah kopfschüttelnd zu; die Halle war schon seit
Jahren fertig, und noch kein Pilger hatte den Stern der Decke gläubig
angesehen.
Da kam eines Tages ein Findelkind der Armut in das Gewölbe. Heimatlos und
elternlos war der Knabe ausgezogen, aber Augen waren voll Sonne und sein Herz
voll Güte. Er sang in den blauen Himmel hinein, und sein trocknes Brot
mundete ihm wie köstliches Manna. Ehrfurchtsvoll trat er in das hohe Tor,
ließ seine staunenden Blicke langsam durch das Gewölbe gleiten und
sah entzückt auf zur Kuppel. Da war ihm, als ob das ganze Bauwerk fern
oben in der Mitte zusammenfloss, und als ob sich goldne Ströme in langen
Bahnen aus dem leuchtenden Sterne in die Halle zurückergössen. Immer
wieder sah er hinab - hinauf - seine Augen wurden weit vor staunender
Erkenntnis, und wie zum Gebet schlossen sich seine Hände.
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