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Die
Christblume
Weihnachtsmärchen
von Paula Dehmel ( 1862 bis 1918 )
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Einsam
ist die Blume, von der ich euch heute erzählen will. Sie kennt nicht die
frohen Tage des Frühlings noch die duftreichen Nächte des Sommers.
Keine flüsternden Gefährtinnen wachsen neben ihr auf, kein Vogel
singt sie in Träume. In Schnee und Eis muss sie schauen, der Nordwind
streicht über sie hin, und das eintönige Krächzen der
Rabenvögel ist ihre Musik.
Und doch ist sie weiß und zart wie nur eine ihrer Schwestern; anmutig
wächst sie aus dem Kranze grüner Blätter empor, und ihr tiefer
Kelch hütet die Geheimnisse der Blumen. Und sie fühlt keinen
Winterschmerz! Still und stolz steht sie in ihrer Kraft. Sie weiß das sie
begnadet ist: die einzige Blume, die im Winter blühen darf, die einzige
Blume, die das heilige Christfest feiern darf mit den Bewohnern der Erde. Sage
mir, Schwester der Lilie, was rief dich ins winterliche Leben? Was gab dir die
Macht, der Kälte und dem Sturm zu trotzen? Warum schläfst du nicht im
Frieden der Erde?
Die Blätter rauschen mir Töne und Akkorde zu, sie raunen und rauschen
- Silben höre ich, Worte - und nun will ich ihre Geschichte erzählen.
Es ist Totensonntag. Auf dem Wege zum Kirchhof geht eine stille dunkle Schar
Menschen. sie tragen Totenkränze, Tannenreiser und Immortellen,
immergrüne Eichen und rote Vogelbeeren. Sie gehen schweigend, als
dächten sie vergangener Tage oder träumten in banger Hoffnung von
künftiger Helle. Der letzte im Zug ist ein kleiner Knabe, der auf der
Schulter ein grünes Holzkreuz trägt, eine schwere Last für einen
jungen Körper! Es ist ein armseliges Kreuz, roh gefügt, mit
abgeschrägten Ecken. Des Knaben Blicke aber ruhen liebevoll darauf; seine
jungen, ungeübten Hände haben wohl selbst das Holz geschnitzt.
Aus der Kapelle des Totenhauses läutet die kleine Glocke, und
andächtig zieht die Schar der trauernden durch das Portal. Ein leiser Wind
geht mit ihnen; es sind die Todesengel, die dem Zuge unsichtbar folgen. Vom
breiten Mittelwege aus verteilen sich lautlos die Gäste der Toten. Bald
hat auch der blasse Knabe das Grab seiner Mutter gefunden. Es ist ein frischer
Hügel; ohne Schmuck und ohne Pflege liegt er im kühlen
Frühnebel. Der Kleine kniet nieder, pflanzt sein Kreuzlein zu Häupten
der Toten und betet leise. Der Engel, der ihm folgte, beugt sich nieder, um die
Inschrift zu lesen. "Liebe Mutter", steht in großen, kindlichen
Buchstaben auf dem Querholz, sonst nichts. Da küsst der Engel das Kind
aufs Haupt.
Die andern Gräber schmückten sich nach und nach mit den Blumen und
Kränzen der Leidtragenden; des Knaben Augen aber sahen angstvoll über
das leere Grab, und ein Zucken des Schmerzes ging über das kleine Gesicht.
"Lieber Gott," betete er leise, "lass meiner Mutter auch eine
schöne Blume wachsen, ich muss fort ins Weisenhaus und kann ihr keine mehr
bringen. Du aber kannst es, lieber Gott, du bist gut und allmächtig, und
ich bitte dich so sehr."
Da küsste der Engel das Kind zum zweiten Male, und ein stiller Schein der
Gewissheit kam in die braunen Augen des Knaben. Er rückte das Kreuzlein
noch einmal zurecht, küsste das Grab seiner Mutter und folgte den andern
Leuten, die den Heimweg antraten.
Der Engel aber flog heim zu Gott und brachte ihm den Wunsch des Knaben.
"Es ist Winter," sprach der Herr, "alle Pflanzen schlafen; soll
ich diese Kindes wegen meine ewigen Gesetze ändern?" "Deine
Allmacht, o Herr, ist größer als dein Gesetz, deine Güte
reicher als dein Wille!" Da lächelte der Herr, dass die Wolken
erstrahlten und ein Klingen durch die Sterne ging. "Komm", sagte er
zum Engel, und sie traten schweigend in den Garten des Paradieses.
Dort blühen die Blumen, die achtlose Hände auf Erden fortgeworfen und
achtlose Füße zertreten haben. Schöner blühen sie hier im
himmlischen Licht als in der irdischen Sonne; und als der Schöpfer zu
ihnen trat, reckten sich Ranken und Gräser ihm entgegen, und die Kelche
strömten über von Duft und Glanz.
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