|
|
Lang,
Lang ist`s her.
Weihnachtsgeschichte
von Heinrich Seidel ( 1842 bis 1906 )
|
|
|
Um
die Zeit, als es dort noch Leierkastenmänner gab, ging ich an einem
schönen Sommerabend mit meinem Freunde, dem Musikdirektor Leonard Brunn,
den ich seit Jahren nicht gesehen hatte, in den Tiergarten. Mitten im besten
Gespräch näherten wir uns dem ersten der dort aufgestellten
Orgeldreher, der Tag für Tag an derselben Stelle seinen musikalischen
Beruf ausübte. Indem er in auffallender Weise zur Andeutung seiner
Blindheit auf der schon ganz blankgetasteten Wachstuchdecke seines
musikalischen Kastens umherstrich und nach etwaigen Dreiern tappte, spielte er
eine jener infamen Allerweltsmelodien, die zuweilen als eine Art von
musikalischer Epidemie über die Menschheit verhängt werden. Zu meiner
größten Verwunderung griff mein Freund Leonard Brunn, der sonst die
Orgeldreher im allgemeinen und dieses Lied im besonderen ingrimmig hasste, in
seine Tasche und reichte dem blinden Kollegen in fürstlicher Freigebigkeit
einen Silbergroschen. Wir fuhren in unserem Gespräch fort und gerieten im
Laufe dessen zu dem Denkmal Friedrich Wilhelm III., hinter dem der alte,
freundliche Herr mit der Militärmütze bereits seit der großen
Vorzeit jeden Nachmittag "die letzte Rose" von sich gab. Die an
Verschwendung streifende Freigebigkeit meines Freundes wiederholte sich. Da er
sonst ganz vernünftig sprach und mir soeben noch über die Anwendung
der Posaunen im Orchester einen lehrreichen Vortrag gehalten hatte, vermochte
ich mir durchaus keine Vorstellung zu machen, wie diese abnorme Handlungsweise
zu erklären sei, und nachdem ich einige Zeit nachdenklich
einhergeschritten war, sagte ich dies meinem Freunde. Da wir jedoch gerade in
die Nähe eines melancholischen Trauergreises gekommen waren, der seine
Orgel so trübselig drehte, als sei es ein Kindersarg mit einer Kurbel
daran, antwortete Leonard einstweilen nicht, sonder schmunzelte nur etwas und
blinzelte ein wenig mit den Augen. Und obgleich dieser traurige Mensch die
Kutschkepolka in einem Tempo spielte, als wolle er ihre Brauchbarkeit bei
Begräbnisfeierlichkeiten nachweisen, erhielt auch er seinen
Silbergroschen. Als nun der gerührte Leiermann auf seinem Trauerkasten ein
anderes Register zog und uns dankbar "Röschen hatte einen
Piepmatz" im Tempo eines Chorales nachsendete, lächelte mein Freund
Leonard wohlwollend wie ein Verklärter, der erhaben ist über die
Plagen dieses irdischen Jammertales.
"Lass uns in den zoologischen Garten gehen," sagte er dann,
"dort suchen wir uns eine heimliche Bank und ich erzähle dir eine
Geschichte."
Von der Lichtenstein-Brücke her, wo ein behäbiger kleiner Invalide
seine musikalische Wegelagerei betrieb und dem harmlosen Wanderer den Pass
verlegte, schallte es nun von ferne herüber: "Lang, lang ist`s
her!"
Leonard`s Züge verklärten sich.
"Das ist das Rechte," sagte er, "der Mann versteht seine
Zeit." Er griff in die Tasche und mit Schauder und Staunen sah ich ein
blankes Markstück in seiner Hand blitzen.
"Leonard!" rief ich, "du wirst doch nicht?!" Aber siegreich
und heiter schritt er auf den Leiermann zu und vollführte den Akt
wahnsinnigster Verschwendung, der mir jemals vor Augen gekommen ist. "Ihr
seid ein tüchtiger alter Kerl," sagte er und klopfte den fast
erschrockenen Orgelmann auf die Schulter; "Ihr habt Talent."
"Leonard," sagte ich, "bedenke doch, was der Mann für einen
günstigen Posten hat hier an diesem Engpass, der ist möglicherweise
reicher als du."
"Schadet nichts," sagte er, "Höre nur erst meine
Geschichte."
Ich kann sagen, dass ich nicht wenig gespannt war, ein Erlebnis zu erfahren,
das so sonderbare und unglaubliche Erscheinungen im Gefolge hatte.
"Ich erinnere mich sehr wohl," sagte ich, "deiner mannigfachen
und gewaltigen Zornausbrüche, die dir die Orgeldreherplage sonst entlockt
hat. Du stelltest dir die musikalische Hölle vor wie eine unendlich lange
Chaussee und an jeder Pappel einen teuflischen Orgeldreher in voller Arbeit,
fortwährend beschäftigt, den armen Musikanten, die
|
|
|