|
|
Am
See und im Schnee
I.
Am See.
Weihnachtsgeschichte
von Heinrich Seidel - Seite 6
|
|
|
[
zurück zum
Kapitelanfang der Weihnachtsgeschichte ]
ein herrliches und ausdauerndes Gesprächsthema fand. Diese Kreuzotter
musste aber die letzte ihres Stammes gewesen sein, denn seit jener Zeit hatte
man in der ganzen Gegend nicht mehr von so verdrießlichem Gewürm
gehört.
Unter solchen Gedanken war Hella langsam an dem Rande des Waldes entlang
geritten und kam nun an eine Stelle, die stets eine ganz besondere Lockung auf
sie ausgeübt hatte. Seit das Zerwürfnis zwischen den beiden Familien
ausgebrochen war, bestand ein Verbot ihres Vaters, den Wald des feindlichen
Gutes jemals zu betreten, und das war ihr an diesem anziehenden Fleck immer
besonders grausam und hart erschienen. Die ragenden Stämme, die den
größten Teil des Forstes bildeten, traten dort zurück und
umgaben in weitem Bogen eine von niederem Buschholz, blumigen Grasflächen
und einzelnen größeren Bäumen erfüllte Lichtung. Unter
diesen tat sich eine mächtige Eiche hervor, die sich in der Mitte dieses
Platzes gleichsam als der König des übrigen Pflanzenwuchses
darstellte. In der Umgebung hieß diese Gegend "der Vogelsang",
und zwar mit Recht, denn solche Orte lieben unsere Singvögel, und in jedem
Frühling war hier ein fast betäubendes Flöten und Musizieren.
Auch schien es Hella immer, dass nirgendwo so herrliche Waldblumen zu finden
seien als hier, und im Sommer, wenn ein betäubender Duft von
Jelängerjelieber dort wehte, hatte sie als Kind oft sehnsüchtig
hinübergeblickt nach den üppigen Himbeerbüschen und den mit
blaubereiften Früchten bedeckten Rankenhügeln der Brombeeren.
Auch heute, wo der Gesang der Vögel bereits verstummt war und statt der
leuchtenden Blumen nur eine verschiedenartige Färbung des Laubes und das
glänzende Rot der Vogelbeeren oder das schimmernde Schwarzblau der
Schlehen vorhanden war, übte dieser Ort den alten Zauber auf sie aus. In
dem stillen Sonnenschein, der in der geschützten Bucht warm brütete,
flogen behaglich die bunten Herbstschmetterlinge, ein Zug zwitschernder Meisen
ging von Baum zu Baum, an die feinsten Zweige sich anhäkelnd, in der Ferne
hob ein Reh lauschend den Kopf und schritt zögernd und scheinbar
widerwillig dem Hochwalde zu; alle schienen gern zu verweilen an diesem
freundlichen Ort.
Hella war heute unternehmungslustiger als sonst, sie warf den Kopf auf, als
wollte sie sagen: "Ei warum denn nicht?" Einen Augenblick später
war sie vom Pferde, band das Pony am Waldrande an einen Ast und schickte sich
an, den Wunsch ihrer Kindheit zu erfüllen, in das verbotene Paradies
einzudringen. Als sie zwischen dem Buschwerk durch das hohe Gras dahinging und
dazu unternehmungslustig die kleine Reitpeitsche schwenkte, schrak sie doch
plötzlich zusammen über den hässlichen, schnarrenden Ruf eines
Hähers, der wahrscheinlich in den Nussbüschen eine Nachlese gehalten
hatte und nun entfloh. Aber gleich lächelte sie wieder: "Das ist man
bloß der Holtschraag," dachte sie mit denselben Worten, die damals
Fritz gebraucht hatte. Ob er wohl noch jetzt immer "man bloß"
sagte? Als Kind hatte er ein hübsches, gesundes Aussehen gehabt, aber so
viele Sommersprossen, dass sein Gesicht anzusehen war wie das gesprenkelte Ei
eines Wasserhuhns.
Hella schritt weiter durch das windstille, sonnige Schweigen, nur das Laub
raschelte zu ihren Füßen und die Gräser, die ihr Kleid
streifte. Sie kam an die alte Eiche, die noch stolz und grün emporragte
und eine Unzahl von ihren Früchten in das Gras gestreut hatte. Ein
Eichhörnchen rannte in komischen Sprüngen davon und sprang in
hastigen Sätzen an der rauen Borke des mächtigen Stammes in die
Höhe. "Katzeicher," dachte Hella unwillkürlich und
lächelte. Hinter der Eiche senkte sich der Grund zu einem kleinen
Erlenbruch, und diesen kleinen Abhang hinab hatte sich ein ungeheurer Strauch
von wilden Rosen gelagert. Aber die zarte Pracht seiner unzähligen,
blassroten Blüten war längst entschwunden und hatte einer Unmenge von
nützlichen Hagebutten Platz gemacht, die gleich Korallen leuchteten. So
gelangte Hella endlich an das Ende der Lichtung, wo die glatten Stämme
schimmernder Buchen empor standen. Es verlockte sie, zu dem kleinen See
vorzudringen, um zu sehen, ob die Mooshütte wohl noch stände, und den
Platz wieder zu betrachten, an dem so freundliche Kindheitserinnerungen
hafteten. In diesen gewaltigen Buchenhallen war es noch stiller als in der
Lichtung. Die einfallenden Sonnenlichter hoben die aus dem welken Laube
aufgetauchten
|
|
|