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Am
See und im Schnee
I.
Am See.
Weihnachtsgeschichte
von Heinrich Seidel ( 1842 bis 1906 )
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Braunsberg
und Wildingshagen sind zwei Rittergüter, die in einer der fruchtbaren
Gegenden von Norddeutschland nicht weit voneinander entfernt liegen. Vor Jahren
lebten daselbst zwei Gutsbesitzer von einerlei Gesinnung und Neigung; sie
hielten gute Freundschaft miteinander, unterstützten sich gegenseitig mit
Rat und Tat und waren eifrig bemüht, einer dem andern den guten Rotwein
auszutrinken, der reichlich in ihren Kellern lagerte. Dies freundschaftliche
Verhältnis schien sich bei den ältesten Söhnen, die zur
Übernahme der Güter bestimmt waren, fortsetzen zu wollen. Sie
besuchten in einer benachbarten Stadt das Gymnasium, durchsaßen fast
nebeneinander in langsamen Tempo die Klassen und kamen beide glücklich
genau an derselben Stelle durch das Abiturientenexamen, nämlich an jener,
wo oben durch und unten durch hart aneinander grenzen. Während dieser
ganzen Zeit waren sie unzertrennlich gewesen, hatten bei einer kleinen
ausgebleichten Kanzleisekretärswitwe zwei Zimmerchen bewohnt, hatten alle
Vorräte, mit denen ihre vorsorglichen Mütter das städtische
Hungersleben zu mildern trachteten, redlich miteinander geteilt und alle ihre
dummen Streiche gemeinsam ausgeführt.
Sie bezogen demnächst auch dieselbe Universität, um sich unter dem
Vorwande des Studiums der Rechtswissenschaft einige Jahre lang von den
schrecklichen Strapazen der Abgangsprüfung zu erholen, und hier erlitt der
scheinbar so dauerhafte Freundschaftsbund den ersten Riss, indem Peter Maifeld,
der einstige Besitzer von Braunsberg, eines guten Abends in die Netze einiger
Corpsstudenten ging und am andern Morgen mit schwerem Haupte als ein Fuchs der
Borussia erwachte, während Fritz Dieterling, der zukünftige Herr auf
Wildingshagen, fast gleichzeitig in die Burschenschaft Germania eintrat. Da sie
nun auf diese Art plötzlich gewissermaßen zwei verschiedenen
Nationen angehörten, deren unabänderliche Stammesgesetze
vorschreiben, sich gegenseitig mit gebührender Nichtachtung zu betrachten,
so blieb ihnen nichts übrig, als sich zu trennen und sich fortan mit
kühler Höflichkeit aus der Ferne zu besehen. Dies hinderte jedoch
nicht, dass sie bei Ferienbesuchen in der Heimat, wo sie sich auf neutralem
Boden und sozusagen in Zivil fühlten, den alten, freundschaftlichen Umgang
fortsetzten, bei welchen Gelegenheiten sie allerdings häufig über die
erhabenen Grundsätze ihrer beiden Völkerschaften in großen
Streit gerieten, ohne dass es einem von ihnen gelingen wollte, den anderen von
der Haltlosigkeit und Verwerflichkeit seiner Anschauung zu überzeugen.
Beide verließen nach drei Jahren die Universität, Peter Maifeld, um
bei einem Freunde seines Vaters die Landwirtschaft praktisch zu erlernen,
während Fritz Dieterling noch eine Zeitlang auf Reisen ging. Jedoch nach
einem halben Jahre schon rief ihn die Nachricht von dem plötzlichen Tode
seines Vaters nach Hause, und er war gezwungen, augenblicklich das Gut zu
übernehmen und sich mit Beihilfe eines alten, tüchtigen Inspektors in
die neue Tätigkeit einzuarbeiten. Nach einem Jahre verheiratete er sich
mit einer benachbarten Gutsbesitzertochter von blühender Gesundheit und
achtbarem Vermögen, und nicht ganz ein weiteres Jahr später war auch
schon ein neuer, ganz kleiner und sehr anspruchsvoller Fritz Dieterling da, so
dass der, der noch vor dreißig Monaten im Kreise fröhlicher Genossen
gesungen hatte: "'s gibt kein schön'res Leben als
Studentenleben!" nun bereits die Würde eines Familienvaters
bekleidete und mit vollem Rechte das Lied anstimmen konnte: "O, alte
Burschenherrlichkeit, wohin bist du verschwunden?!" Dies fiel ihm aber gar
nicht ein, sondern sich mit Feuereifer seiner neuen reichen und vielseitigen
Tätigkeit widmend, lag ihm nichts ferner als jene sentimentale Erinnerung
an die sogenannte frische und fröhliche Studentenzeit, die man
vorzugsweise bei jenen findet, die sich nicht weiter entwickeln, sondern,
nachdem sie eine Zeit tollen studentischen Übermutes wie eine Krankheit,
gleich den Masern, überstanden haben, auf alle viere in das Philistertum
zurücksinken, wo von jeher ihre wirkliche Heimat war.
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