|
|
Am
See und im Schnee
I.
Am See.
Weihnachtsgeschichte
von Heinrich Seidel - Seite 8
|
|
|
[
zurück zum
Kapitelanfang der Weihnachtsgeschichte ]
Hella stand eine Weile und überlegte, während ihr Herz klopfte, dass
sie es zu hören meinte. Dazu kam der unangenehme und aufregende Gedanke an
die Schlangen, von denen sie annahm, dass sie in solchen alten, vermorschten
Baumstümpfen, wie der in ihrer unmittelbarer Nähe, mit ganz
besonderer Vorliebe nisteten. Sie stand eine Weile und überlegte. Es gab
ein Mittel, loszukommen, und zwar eins, das wenig Schwierigkeiten machte. Wenn
sie herausschlüpfte aus ihrem Reitkleide wie eine Nuss aus der Hülse,
dann gewann sie Freiheit der Bewegung und konnte die zurückgelassene
Kleidung mit Leichtigkeit aus den Dornen lösen. Wenn aber in diesem
Augenblick jemand darüber zukäme, ein Jäger oder ein Holzsammler
oder gar ein Mitglied der feindlichen Familie! Sie schauderte bei diesem
Gedanken. Aber was sollte sie machen? Entweder sich mit kräftigem Rucke
losreißen und ihr halbes kleid in den Dornen lassen, oder jenen einfachen
Weg ergreifen; anderes gab es nicht. Sie durchspähte den Wald nach allen
Richtungen, wandte sich dann und ließ ihre Blicke am Seeufer entlang
gleiten: alles war einsam und durchwebt vom stillen Sonnenschein. Sie presste
die Lippen in raschem Entschluss aufeinander, ihr Herz begann schneller zu
pochen, und mit scheuer Hand fing sie an, die Knöpfe des Reitkleides zu
lösen. Aber nicht weit war sie damit gelangt, als mit klatschendem
Flügelschlag die Enten an einer anderen Stelle des Sees aufstanden, und
sie, über dies Geräusch erschreckt, zusammenfuhr und innehielt. Sie
blickte sich ängstlich um. Da am Ufer des Sees in der Ferne über dem
Buschwerk war ein Kopf aufgetaucht, ein männlicher Kopf mit einem
verblichenen Jägerhut bedeckt, und gleich darauf trat dort eine
jugendliche Gestalt hervor, die, mit einem verschlossenen Jägeranzug
bekleidet, langsam das Ufer entlang schlenderte.
Hella ward in schneller Reihenfolge dunkelrot und leichenblass, hastete mit
verwirrten Fingern, die Knöpfe wieder zu schließen, und spähte
dann, von leichtem Laubwerk und dem Schatten des Waldes verborgen, auf den
nahen Wanderer hin. Es war ein Jäger, das sagte ihr die Kleidung, und
wahrscheinlich oder sicher ein Angestellter des feindlichen Gutes, der den
Forst besichtigte. Waffen und Tasche trug er nicht, nur einen einfachen Stock,
mit dem er zuweilen einige kunstvolle Lufthiebe ausführte oder eine
verspätete Distel köpfte. Der Jäger musste auf seinem Wege nahe
an dem Fuße des Abhanges vorüberkommen, und nun galt es zu
entscheiden, was zu tun war. Sollte sie sich verborgen halten, bis er
vorüber war, oder ihn anrufen, dass er ihr zu Hilfe käme? Um
darüber klar zu werden, musste sie erst sein Gesicht genauer sehen, ob es
Vertrauen erweckte. Zwar wurde dann ihr komisches Abenteuer der feindlichen
Familie bekannt, und es gab für diese etwas zu lachen, allein was machte
das, wenn man es nicht hörte? Der junge Mann kam näher, und Hella
musste sich sagen, dass er sehr vertrauenserweckend aussähe. Er hatte ein
angenehmes und gutes Gesicht und blickte frei und treuherzig aus seinen dunklen
Augen; dieser Jäger glich nicht dem bösen Kaspar aus dem
Freischütz, sondern dem guten Max. Nur dass er nicht ganz so wabbelig
erschien, wie dieser. Sie hatte das Gefühl, hier dürfe sie etwas
wagen, und als der junge Mann ganz nahe war, wappnete sie sich mit dem ganzen
Stolze ihres Mädchentums und mit der Würde und Hoheit, die der
Tochter eines Gutsbesitzers zukommen, und rief:
"Sie, Jäger! Kommen Sie hier mal schnell herauf und helfen Sie
mir."
Es ist mit Sicherheit festgestellt, dass der junge Mann ziemlich verblüfft
ausgesehen hat, als er aus dem schweigenden Walde heraus und mitten in der
vermeintlichen Einsamkeit also angeredet wurde, allein er verlor keine Zeit,
sondern folgte auf der Stelle diesem Rufe. Man muss ihm ferner das Zeugnis
geben, dass er nicht lachte, als er sah, welch ein lieblicher Vogel sich dort
gefangen hatte, sondern eine würdevolle Teilnahme bewies, wie es sich
ziemt, wenn ein Mitmensch also in Not geraten ist. Mit kritischem Scharfblick
übersah er sofort die Lage, zog ein schönes festes und scharfes
Taschenmesser hervor, klappte es auf und sagte: "Es ist man bloß . .
. es ist nur dieser eine Dornbusch hier - das wollen wir gleich haben."
Damit setzte er das Messer an und schnitt mit einem kräftigen Zuge den
Stamm des Weißdornes durch, so dass Hella auf der Stelle befreit war. Mit
den ersten Worten, die der Jäger sprach, war mit der Geschwindigkeit eines
Blitzzuges eine Reihe von Gedanken durch Hellas
|
|
|