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Das
Heimchen am Herde
Zweites
Gezirpe.
Weihnachtserzählungen
von Charles Dickens - Seite 4
Übersetzer: Richard Zoozmann
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Kapitelanfang der Weihnachtserzählung ]
Wie verschieden war doch das Gemälde, das sie sich in ihrem Herzen von ihm
entwarf, gegenüber der Wirklichkeit, in der Kaleb ihr jetzt
gegenübersaß! - Sie sprach von seinem kühnen, freien Schritt,
und darin mochte sie wohl recht haben, denn schon seit Jahren hatte er niemals
mit seinem gewöhnlichen, langsamen Schritte diese Schwelle betreten,
sondern mit einer Raschheit, die ihr Ohr absichtlich täuschen sollte;
niemals hatte er, wenn sein Herz am schwersten war, den leichten Tritt
vergessen, der ihr Herz so heiter und mutvoll machen sollte.
Der Himmel weiß es, aber ich denke, das zerstreute irre Wesen Kalebs mag
zum Teil daraus entstanden sein, dass er sich seiner blinden Tochter zu Liebe
über sich selbst und seine ganze Umgebung ganz irrige Ansichten gebildet
hatte. Wie konnte der kleine Mann auch anders als verwirrt sein, nachdem er
sich schon so lange Jahre bemüht hatte, seine eigene Identität und
die aller Gegenstände, die in irgend einer Beziehung zu ihm standen, zu
zerstören!
"Da haben wir's nun!" rief Kaleb und trat ein paar Schritte
zurück, um seine Arbeit besser mustern zu können; - "der
Wirklichkeit so ähnlich, wie sechs Pence in Kupferhellern einem silbernen
Sechspencestück! Es ist nur schade, dass sich die ganze Fronte des Hause
auf einmal öffnet! Wäre jetzt nur wenigstens eine Treppe darin und
ordentliche Türen durch die man die Zimmer beträte! Aber das ist
gerade das Schlimmste an meinem Handwerke, dass ich mich stets selber
betrügen und täuschen muss!" "Du sprichst so leise,
Väterchen?" sagte Berta, - "bist du denn müde?"
"Müde?" wiederholte Kaleb mit plötzlich ausbrechender
Lebhaftigkeit, - "was sollte mich denn müde machen, Berta? Ich war
noch niemals müde - was verstehst du denn darunter?" Um seinen Worten
mehr Nachdruck zu geben, reckte und dehnte er sich in unwillkürlicher,
widersprechender Nachahmung zweier sich dehnenden und gähnenden Figuren
von halber Lebensgröße, die auf dem Kaminsimse stunden, und von den
Hüften aufwärts in einem Zustand ewiger Müdigkeit dargestellt
waren und summte das Bruchstück eines Liedchens. Es war ein Trinklied,
etwas von einem schäumenden Becher, und er sang es mit einer erheuchelten
kreuzfidelen Stimme, die sein Gesicht noch tausendmal magerer und
gedankenvoller als sonst machte.
"Heda, Ihr singt gar?" rief Tackleton, der den Kopf zur Tür
hineinsteckte; - "alle Wetter! ich kann nicht singen!"
Das würde auch in der Tat niemand bei ihm vermutet haben; er hatte auch
durchaus nicht das, was man im gemeinen Leben ein lebensfrohes Gesicht nennt.
"Ich kann's gar nicht über mich gewinnen, zu singen; - ist mir aber
lieb, dass Ihr's könnt. Hoffentlich könnt Ihr aber dabei auch noch
Zeit zur Arbeit finden; verträgt sich zwar beides schlecht zu gleicher
Zeit, sollte ich meinen."
"Wenn du nur sehen könntest, Berta, wie er mir mit den Augen
zublinzelt," flüsterte Kaleb, - "gar ein scherzhafter Herr! Wenn
du ihn nicht kennen würdest, du würdest fast denken, er meine es im
Ernste, nicht wahr?"
Das blinde Mädchen nickte ihm lächelnd zu und schwieg. "Den
Vogel, der singen kann und nicht will, den muss man zum Singen zwingen, sagt
das Sprichwort!" brummte Tackleton vor sich hin. "Wenn aber die Eule
nicht singen kann und soll nicht singen, wenn sie's gleichwohl möchte, was
muss man dann mit ihr anfangen?"
"Du solltest nur sehen, wie spaßig er mir jetzt wieder
zuwinkt!" flüsterte Kaleb seiner Tochter zu; "ei du meine
Güte!" "Er ist doch immer lustig und guter Laune, so oft er zu
und kommt!" rief Berta lachend.
"Ah so! du bist auch da, armes blödsinniges Ding?" brummte
Tackleton.
Er hielt sie in der Tat für blödsinnig und stützte diese
vorgefasste Meinung - ob absichtlich oder nicht, lassen wir dahingestellt - auf
die Beobachtung der Zuneigung, die sie für ihn an den Tag legte.
"Na, wenn du nun einmal hier bist, so lass hören, wie's dir
geht!" rief Tackleton in seiner gewöhnlichen sauertöpfischen
Weise. "O gut, ganz gut!" rief Berta freundlich; - "ich bin so
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